Semiaktive Stoßdämpfer: Maximale Performance - keine Kompromisse
Bei der Abstimmung von Stoßdämpfern ergibt sich für die Entwickler und Ingenieure eine besondere Herausforderung:
So sollen die Stoßdämpfer auf der einen Seite stets die Bodenhaftung der Räder sicherstellen und die Karosseriebewegungen beruhigen, wofür größere Dämpfkräfte notwendig sind. Auf der anderen Seite erwarten Kunden einen immer höheren Fahrkomfort, für den eine eher weiche Abstimmung hilfreich ist. Ole Götz verrät, wie der Stoßdämpfer-Spezialist thyssenkrupp Bilstein diesen Zielkonflikt auflöst – und wie die Zukunft des Stoßdämpfers aussehen wird.
Die Stoßdämpfer – oder physikalisch präziser: die Schwingungsdämpfer - eines Fahrzeugs sind das zentrale Verbindungsglied zwischen Aufbau und Rädern. Sie haben die Aufgabe, die durch Fahrbahnunebenheiten verursachten Schwingungen zu dämpfen, um die Bodenhaftung der Räder sicherzustellen. Zudem sollen sie die Bewegungen der Karosserie kontrollieren, die ebenfalls durch die Straße, aber auch durch dynamische Fahrmanöver wie Lenken oder Bremsen angeregt werden. Es handelt sich also um ein höchst sicherheitsrelevantes Bauteil, das zudem ganz wesentlich zur Fahrcharakteristik und zum Komfort eines Fahrzeugs beiträgt.
Zielkonflikt zwischen Komfort und Fahrsicherheit
Die höchste Priorität hat stets die Fahrsicherheit. Das bestätigt Ole Götz, Head of Technology & Innovation bei thyssenkrupp Bilstein, einem der weltweit führenden Stoßdämpfer-Erstausrüster: „Wir müssen sicherstellen, dass der Reifen in allen Situationen sicher den Kontakt zur Fahrbahn behält“. An zweiter Stelle kommt die vom Kunden gewünschte bestmögliche Spreizung zwischen Fahrkomfort und Fahrsportlichkeit – und das zu vertretbaren Kosten.
Für Stoßdämpfer-Entwickler ergibt sich laut Ole Götz so ein Zielkonflikt zwischen Komfort auf der einen Seite und Fahrsicherheit und Agilität auf der anderen. „Aus Komfortsicht wollen wir natürlich, dass Fahrbahnanregungen gar nicht erst in die Karosserie geleitet werden, dass die Insassen sie überhaupt nicht bemerken“, so Götz. „Das spricht für geringe Dämpfkräfte. Eine zu weiche Abstimmung würde allerdings bedeuten, dass das Rad den Kontakt zur Fahrbahn verliert oder die Karosserie in Schwingungen gerät.“
Das führt bei passiven Stoßdämpfern klassischer Bauart zu einem Problem. Denn sie verfügen lediglich über eine Dämpfkraft-Kennlinie, die den Widerstand des Dämpfers in Abhängigkeit der Ein- und Ausfedergeschwindigkeit beschreibt. Ihre Abstimmung kann deshalb immer nur ein Kompromiss sein, der sämtliche Fahrsituationen, Fahrbahnanregungen und Beladungszustände des Fahrzeugs abdecken muss. Je nachdem, wo beim jeweiligen Anwendungsfall die Prioritäten liegen, kann die Kennlinie entweder sportlicher oder komfortabler ausgelegt werden.
Situationsabhängige Verstellung der Dämpfkraft
Bei sogenannten semiaktiven Fahrwerken kann dieser Zielkonflikt aufgelöst werden. Denn semiaktive Systeme erlauben die situationsabhängige Verstellung der Dämpfkraft. Und das sowohl in der Zugstufe, also wenn der Dämpfer auseinandergezogen wird, als auch in der Druckstufe, hier wird der Dämpfer zusammengedrückt. Götz: „Wir können dabei stufenlos zwischen der minimalen und der maximalen Kennlinie verstellen, indem wir die Ventile im Stoßdämpfer variabel gestalten. Diesbezüglich existieren verschiedene Ansätze. Wir können zum Beispiel die Durchflussquerschnitte verstellen oder auch mit Druckbegrenzungsventilen arbeiten, um den Widerstand für das durchfließende Öl zu verändern, der die Kennlinie des Stoßdämpfers bestimmt.“
So wie beim aktuell modernsten System im Serieneinsatz: Bilstein DampTronic X, das mit einem sehr schnell verstellbaren Druckbegrenzungsventil ausgestattet ist. Dessen hohe Verstelldynamik ermöglicht eine Anpassung der erforderlichen Dämpfkräfte in wenigen Millisekunden auf den vom zentralen Steuergerät ermittelten Dämpfungsbedarf. Das Regelkonzept berechnet und verstellt auf Basis von Sensordaten wie Rad- und Karosseriebewegung, Fahrgeschwindigkeit oder der Veränderung des Lenkwinkels fahrsituationsabhängig und radselektiv mehrere hundert Male pro Sekunde die beste Dämpfkraft. Die Folge: Sowohl Agilität als auch Fahrkomfort und Sicherheit können gesteigert werden. Einen klaren Fokus auf den Fahrkomfort legt Bilsteins DampTronic Sky Technologie. Bei diesem System kommen zwei Ventile zum Einsatz, die Zug- und Druckstufe jeweils individuell steuern.
Heute gehören semiaktive Fahrwerkssysteme bereits zum Standard im Premiumsegment der Automobilhersteller. Doch längst sind die Systeme auch in der Mittelklasse und dem Kompaktwagensegment angekommen – dann in der Regel als optionale Sonderausstattung. Werden sie die passiven Systeme bald ganz ersetzen? Ole Götz glaubt nicht daran: „Der Marktanteil für diese Systeme wird auf jeden Fall steigen, weil die Ansprüche der Kunden weiter wachsen werden. Ich gehe aber davon aus, dass auch in 30 bis 50 Jahren noch Autos mit passiven Systemen unterwegs sein werden.“
Neue Entwicklungsfelder und Herausforderungen
Keine Zukunftsmusik hingegen ist die Elektromobilität, mit der sich die Stoßdämpfer-Spezialisten von Bilstein bereits seit Jahren intensiv beschäftigen. Ein Themenbereich mit ganz speziellen Herausforderungen. Die größte ist das hohe Gewicht von E-Autos. Denn die immensen Fahrzeuggewichte erfordern hohe Dämpfkräfte, um den Fahrzeugaufbau zu kontrollieren. Auch die Energieeffizienz spielt hier eine wichtige Rolle, wie Ole Götz zudem betont: „Der Energieverbrauch unserer Systeme ist ein ganz wichtiger Aspekt. Sie müssen deshalb so energiesparend wie möglich sein. Schließlich zählt bei Stromern jeder Kilometer Reichweite“.
Eine weitere Herausforderung, die Elektroautos mit sich bringen, ist die Geräuschentwicklung im Innenraum. Weil elektrisch angetriebene Fahrzeuge extrem leise sind, werden störende Geräusche viel stärker wahrgenommen. Geringste Fahrwerksgeräusche, die früher von den Geräuschen des Verbrennungsmotors überdeckt wurden, sind plötzlich ein echtes Thema. Ole Götz: „Im Bereich Noise Vibration Harshness, also dem Bereich, der sich mit hör- oder spürbaren Schwingungen in Kraftfahrzeugen befasst, haben wir uns bereits sehr frühzeitig positioniert. Dem Thema widmen wir viel Aufmerksamkeit“.
Auch das autonome Fahren und die zunehmende Vernetzung sind heute Entwicklungsfelder und Herausforderungen, denen sich die Bilstein Ingenieure stellen. Besonders innovative Features sind etwa bei vernetzten Fahrzeugen möglich: Von einer Cloud zur Verfügung gestellte Daten über die Beschaffenheit der Straßenoberfläche oder auch Informationen, die im Rahmen von Car-to-Car-Kommunikation geliefert werden, könnten das Autofahren auf ein komplett neues Level heben: Auf Basis von Echtzeit-Daten kann das Fahrzeug reagieren, indem die Kennlinien der Stoßdämpfer auf die Qualität der Fahrbahn vorausschauend angepasst werden. Auf diese Weise könnten nicht nur die Bewegungen der Fahrzeugkarosserie reduziert werden, es könnte auch der Traum eines Dämpferentwicklers vom „schwebenden Teppich“ ein Stück weit näher in Reichweite rücken.
Was wie ein Märchen aus tausend und einer Nacht klingt, ist für die Fahrwerksexperten bei Bilstein spannende Realität. Denn hier arbeiten sie schon heute an der Zukunft des Stoßdämpfers.